Irgendwann muss man ja anfangen

dachte ich mir auch und beschloss, am 31. Mai 1939 im Krankenhaus Wangen die mütterliche Dunkelkammer zu verlassen und mit Protestgeschrei diese unsere Welt zu betreten.
Dass sich eine Mutter freut, lästige Kilos so schnell wie nie mehr loszuwerden, ist mehr als verständlich, dass es ein Junge ist, war in unserer Gegend nichts besonderes.

Ansonsten ist es den Eltern am wichtigsten, dass der neue Erdenbürger so weit ersichtlich komplett ist und die einzelnen Körperteile an der richtigen Stelle sind.

Darüberhinaus freute sich mein Vater zusätzlich über das Datum, denn das Kindergeld für den Monat Mai wäre ein paar Stunden später verloren gewesen.
Dass übrigens der behandelnde Arzt im Krankenhaus ein gewisser Dr. Ferstl war, damals als Chefarzt auch für die Geburtshilfe zuständig, ist deshalb bemerkenswert, da er gut 25 Jahre später mein Schwiegervater wurde…

Über den Verlauf der ersten Tage ist mir weiter nichts bekannt. Der 30 Monate ältere Bruder Wolfgang habe sich allerdings gewundert, dass er jetzt nicht mehr die Hauptperson war – dass er sich mit einer Stricknadel an der Babywiege zu schaffen gemacht habe, halte ich allerdings für ein bösartiges Gerücht.

Ich soll, im Unterschied zum Bruder Wolfgang ein sehr ruhiges Kind gewesen sein. Diese Bezeichnung war leicht verdient, denn meine Mutter pflegte years after zu erzählen, dass sie, wenn sie einen halben Kilometer entfernt in der Altstadt einkaufen war und ihren Erstgeborenen eine Zeitlang allein lassen musste, sein Gebrüll schon hörte, wenn sie sich mit vollen Einkaufstaschen am Schiessstattweiher der Wohnung näherte.

Einmal später, erzählte sie oft, habe sie mich im Kinderwagen mit zum Einkaufen genommen, sei nach Hause geeilt und sich nach einer gewissen Zeit gewundert, dass der Kleine in seinem Laufstall neben der Küche so ausnehmend ruhig war. Sie schaute nach, der Laufstall war leer. Sie raste in die Stadt, und da hätte ich die aufgeregte Mama mit einem Lächeln begrüsst.

Irgendwann, ich weiss nicht, wann genau nach meiner Geburt, verwandelte sich das friedliche Bündel Mensch in ein Tag und Nacht brüllendes kleines Ungeheuer. Der Hausarzt Dr. Härle, ein erfahrener, nicht zu Übertreibungen geneigter Praktiker, tippte auf Magenpförtner oder Pylorus, wie die Mediziner sagen und war zunächst am Ende seines Lateins. Er schlug vor, das Kind nach Ravensburg in das etwas grössere Krankenhaus zu geben, in der Hoffnung, dass sich dort jemand finde, der geeignete Massnahmen finde. Aber da hatte er sich bei meiner Mutter verkalkuliert – nur über ihre Leiche würde sie ihr Kind aus der Hand geben.

Schließlich hatte Dr. Härle herausgefunden, dass als Therapie dem Kind alle 60 MinutenTag und Nacht ein Löffelchen Butter zu verabreichen sei, was meine Mutter brav und unerbittlich ich weiss nicht wie viele Wochen oder gar Monate durchhielt – und o Wunder der Knabe überstand die erste gefährliche Krise seines Lebens. Die oder schwäbisch der Butter blieb nicht ohne Wirkung, leider auch in ästhetischer Hinsicht: die frühen Fotos erinnern eher an einen japanischen Baby Sumo Ringer als an ein feinsinniges Bübchen, das man ja in der Erinnerung so gerne gewesen wäre…

Hans Ott (Splitter)

Mein Vater Hans Ott wurde am 8. Januar 1907 in Ehingen/Donau als fünftes Kind von August und seiner Ehefrau Karolina, geb. Linzenmeier geboren.

Seine Geschwister waren Elisabeth geb. 15.10 1895, Anton, geb. 14.7.1897, Robert geb. 1898, mit 9 Wochen gestorben, Theodor, geb. 1900, mit 3 Jahren gestorben und Robert, geb. 24.6.1911.

Von seiner frühen Jugend ist wenig bekannt.
Erhalten sind seine Schulzeugnisse vom nahe gelegenen Gymnasium, die zeigen, dass er ein guter Schüler war, so z.B.

vom 24. Juli 1917, 3. Klasse, wo er unter 28 Schülern den 4. Platz einnimmt und eine Belobung erhält, vom 1. März 1918, Platz 11, vom 30. Juli 1920, Platz 9, vom 4. April 1921, Platz 9 und vom 4. April 1924, bereits in der 6. Klasse.

Am 16. 11. 1918 ereignete sich ein schrecklicher Unfall, der sein weiteres Leben nachhaltig beeinflusste. Der Krieg war verloren, die Soldaten der geschlagenen Armee waren von Westen her in Richtung Ulm auf dem Rückzug – man kann sich vorstellen, in disziplinlosen, wilden Haufen.

Der genaue Hergang des Unglücks läßt sich aus einem handgeschriebenen Dokument des Rechtsanwalts vom 5. 12. 1919 rekonstruieren, der im Auftrag von August Ott den Entschädigungsanspruch gegen die Reichswehrbefehlsstelle Bayern vertrat.

Die bayerische Fliegerabteilung Schleißheim Jasta 78 machte auf dem Rückzug von der Westfront Richtung Ulm in Ehingen zwei Stunden Halt. Neugierige Knaben hätten die Wagen bestiegen um mitzufahren. Ca. sechs Kilometer von Ehingen zwischen Gamerschwang und Öpfingen machte die Truppe Halt, und die Fahrer forderten die Kinder auf abzusteigen. Sie wollten zu Fuß zurück nach Ehingen. Unweit des westlichen Dorfeingangs von Gamerschwang begegnete ihnen ein ohne Zweifel zur Jasta 78 gehöriger Schlußwagen mit Anhänger, auf dem die Feldleiter stand. Unter den Augen des Fahrers dieses Wagens bestiegen Ott und mehrere andere den Anhängerwagen und nahmen auf einem dort befindlichen Bock Platz. Nach einer kurzen Strecke kam ein zur Bedienungsmannschaft gehöriger Soldat mit einem Holzscheit in der Hand und verlante von ihnen, dass sie absitzen sollten. Dies war jedoch nicht möglich, da der Wagen in ziemlich raschem Tempo fuhr, weshalb die Kinder zögerten. Ohne weiteres schlug dieser Soldat mit seinem Holzscheit einen der Knaben namens Mayer auf den Kopf, worauf alle aus Angst vor weiteren Schlägen absprangen. Hans Ott sprang seitlich ab, fiel zu Boden und wurde überfahren. Er blieb ca. eine Stunde legen, bis die Knaben von Gamerschwang Hilfe geholt hatten. Der Wagen fuhr weiter. Er wurde ins Bezirkskrankenhaus Ehingen gebracht und dort mußte ihm das linke Bein abgenommen werden.…

Gegen den zunächst unbekannten Täter wurde Strafanzeige erstattet. Die Ermittlungen blieben ohne Ergebnis und wurden infolge einer Reichsamnestie abgebrochen. Die einschlägigen Akten tragen das Az.1919 Nr. 6622.

Der genannte Truppenteil wird verantwortlich gemacht wegen mangelnder Aufsicht und Überwachung.

Es wird eine gütliche Regelung der Angelegenheit in Form einer Entschädigung vorgeschlagen.

Am 6. 5. 1922 erfolgt vonseiten des Landesfinanzamts München eine Zahlung vom 25.000 Mark. Nach Abzug der Anwaltskosten verbleiben dem Geschädigten

23.925,50 Mark.
Ausdrücklich wird der Verzicht auf alle weiteren Ansprüche gegen den Militärfiskus egal welcher Art insbesondere wegen Geldentwertung (wie prophetisch!) ausgesprochen.

Was es für einen 11-jährigen bedeutet, oberschenkelamputiert zu sein, ist kaum zu ermessen. Die Prothesen waren damals im Vergleich zu heute primitiv, der Junge war als Krüppel gebrandmarkt und aus allen jugendlichen Betätigungen ausgeschlossen. Leicht vorzustellen, zu welchen seelischen Kümmernissen und zu welch unerbittlicher Einsamkeit dieser Zustand in der bald eintretenden Pubertät führen musste.


Erhalten ist ein Brief von Hans in Sütterlinschrift ohne Datum, vom Dezember 1914, wie sich aus dem Inhalt ergibt:

Liebes Grosmütterlein was ist den bei euch geschehe die Franzosenmit den roten Hosen sind bei euch gewesen und haben Häuser angezunden und eingebrochen ihr seit unglücklich daran. Ihr seid gewiss im Keller gewesen und habt euch gefürchtet vor den rothosen fiele Grüsse an Grosbaba und an die Tantemarie. Das hat Hans Ott geschrieben und auch fi(?) viele Grüsse von Mutter und Vater und natürlich von Elsa und Anton und natürlich vom aller kleinsten Robert viele Grüsse und jetzt ist balt das Kristkind da und das wird wol schöne Sachen bringen das klaub ich schon das es heuer nicht so fest einkaufen wirt Heu(?) ist es arm wegen dem Krieg der kostet viele Leben.

hab ich viele Feler. Die Mutter …(?) Oma

Die Mutter des kleinen Hans schreibt auf der Rückseite:

Meine Lieben!

Hans wollte Euch einmal einen Brief schreiben ganz allein ohne Hilfe das werdet ihr am Stil und an den Fehler sehen. Unsern besten Dank für das übersandte Christkindchen. Es tut mir recht leid dass wir Euch nichts schicken können ich hätte Euch auch gerne eine Überraschung und Freude gemacht. Wie geht es Euch? Bei uns alles wohl. Haltet die Feiertage gut, der Friede auf Erden sollte sein. Hoffentlich kommts bald soweit. Dieses Jahr werden die Feiertage in aller Stille abgehalten. Doch nun muß m ich schließen frohe und ruhige Feiertage wünschend bleiben wir Eure dankbaren Kinder Aug. Lina. Anton Elsa Hans und Boberle. Schreibt uns auch.

Erstaunlich, wie das Schreiben des kleinen Hans die Gespräche der Erwachsenen spiegelt und er die Schrecken des Kriegs mitfühlend in seinen Zeilen bedenkt, wie die Feinde, die Rothosen wüten und die Grosseltern und die Tante in Angst und Schrecken versetzen…

So vergehen die ersten Lebensjahre in langen Jahren eines endlosen Krieges, dessen spätes Opfer der 11-Jährige wird, als das Ende der Kampfhandlungen Hoffnung auf Frieden aufkommen lassen.

mein grossvater, karl borromäus fähndrich

heute vor 145 jahren am 4. 4. 1876 ist mein grossvater mütterlicherseits karl in ingoldingen in oberschwaben nicht weit von biberach geboren. sein vater, adolph fähndrich, sohn des lehrers meinrad fähndrich, war lehrer in ingoldingen, wo er von 1835 bis 1902 mit seiner frau margarethe horn lebte. sie hatten fünf kinder, klara, rosa, ida, karl und otto.

karl war mein grossvater, seine schwester rosa war mit jakob baur, kirchen- und kunstmaler in mengen verheiratet. der jüngste, otto, war ebenfalls kunstmaler in münchen, von dem man nichts weiss, ausser dass er bei der familie seines bruders karl immer nur nachts erschien und dringend geld brauchte, um seine schulden zu bezahlen.

karl ist in einem internat aufgewachsen, worüber er nie gesprochen habe, aber schlimme erinnerungen gehabt haben muss, denn er betonte ein leben lang, dass keines seiner kinder je in ein internat käme. der einzige ort, wo er dort glücklich war, sei der raum mit dem klavier gewesen, auf dem er sich offenbar gute fertigkeiten erwarb – er war ein leben lang ein eifriger und guter klavierspieler, davon zeugen auch überlieferte, liebevoll beschriftete notenhefte, u.a. mit “neuen meistern” wie grieg, tschaikowski und anton rubinstein…

er war stark übergewichtig, das zeigt das verlobungsfoto von 1900, und 1914, immerhin schon 38 jahre alt, wurde er beim kriegsausbruch vom militärdienst freigestellt, was damals als grosse schande galt.

er soll ein strenger lehrer gewesen sein, vor allem gegenüber seinen eigenen kindern. neben dem klavier- und orgelspiel widmete er sich der rosenzucht und malte er im nazarenerstil – ein ölgemälde einer mariendarsrellung mit mehreren kindern, nach den aussagen meiner mutter – seiner kinder – befindet sich in meinem besitz. ich vermute, dass er in kontakt stand mit seinem schwager jakob baur – mengen ist nicht weit von wiblingen entfernt – , habe aber keinen beleg dafür. baur hatte in münchen an der akademie studiert und malte jedenfalls im selben stil und war als kirchen- und genremaler sehr erfolgreich.

als junger lehrer wurde karl oft versetzt, das zeigen die verschiedenen geburtsorte seiner acht kinder in einem raum von oberkochen im sog. unterland bis nach oberschwaben, aber schliesslich landete er in wiblingen bei ulm, wo sich schule und lehrerwohnung im aufgelassenen riesigen ehemaligen klostergebäude, die hauptsächlich als kaserne genutzt wurde, befanden.

der strenge lehrer wurde als weich und gefühlvoll beschrieben, z.b. habe er, als seine kinder flügge wurden, nachts am fenster gewartet, bis alle wieder nach hause gekommen waren.

er hatte 1904 meine grossmutter elisabeth grieshaber in der “schönsten dorfkirche der welt” in steinhausen geheiratet – die oma lebte bis 1969 und stammte von einem bauernhof mit bäckerei in ingoldingen.

weil ihr mann dauernd versetzt wurde und ihr bruder joseph früh an schwindsucht starb, wurden hof und bäckerei verkauft, und elisabeth galt als wohlhabende partie. bei jeder geburt ihrer acht kinder habe sie nachgerechnet, wieviel von den goldmark für jedes kind noch verbliebe, bis dann im ersten weltkrieg die goldmark in kriegsanleihen umgewandelt wurden und verlorengingen. unsere oma, mit der wir als kinder engen kontakt hatten, erzählte oft, wie gross der jammer wegen dieses verlustes war, und wie sie ihrem mann insgeheim gram war, dass er seinetwegen alles verkaufen musste und eingebüsst hatte, fügte dann aber lachend hinzu, dass sie durch die lehrerpension, die ihr als witwe über 35 jahre zustand, in ihrem langen leben ein vielfaches an geld zurückbekam.